Die Brille

 

Die Schule in meinem Heimatort bestand aus einem langgezogenen, im rechten Winkel gebauten und an einen kleinen, zum Schulhof abfallenden Abhang gelegenen Gebäude. Es gab damals nur Hauptschule und Grundschule. Die Klassenzimmer befanden sich alle auf der oberen Etage, von wo es aus jedem Raum einen Zugang zum Rasen vor dem Gebäude gab, der mit kleineren Bäumen und Büschen bepflanzt war. Wenn man auf der anderen Seite die Treppe runter ging kam man zu zwei etwas größeren Turnhallen. Heute ist dort der Schülerhort untergebracht. Vom dortigen Eingangsbereich vor den Turnhallen gab es einen Ausgang zum Schulhof, auf dem auch die Hauptschüler ihre Pausen verbrachten.

 

Die Grundschule war im Ostflügel wo man die Morgensonne sehen konnte und in den ersten beiden Schuljahren saß ich im Klassenzimmer immer in der zweiten Reihe, links von der Tafel an den Fenstern. Es gab bunte Vorhänge an den Fenstern und an den Wänden Tafeln, wo allerhand Unterrichtsmaterial angebracht war. Die Tische und Stühle bestanden aus Holz und es roch nach den muffigen Schwämmen, die wir zum reinigen der Tafel brauchten. Ich hatte immer Angst, dass ich etwas Falsches sagen würde, meldete ich mich deshalb meist nur auf Nachfrage der Lehrerin zu Wort, konnte aber dem Stoff gut folgen. Im dritten Schuljahr setzte sich dann meine beste Freundin Beate weiter nach hinten und ich zog mit um.

 

Etwas war merkwürdig. Ich konnte nicht mehr richtig erkennen, was an der Tafel stand. Nur wenn ich die Augen stark zusammenkniff oder sie an den äußeren Winkeln nach außen zog, konnte ich es einigermaßen lesen. Allerdings war das zu auffällig. Die Lehrerin sollte es nicht merken. Wenn es schnell gehen musste, las ich bei meiner Tischnachbarin ab oder fragte sie einfach. Ich wollte nicht zugeben, dass ich nicht gut sah. In der Freizeit hatte ich das nie bemerkt.

 

Heute erinnere ich mich, dass ich schon als ich noch klein war, einmal im Garten einen Igel, der unter einem Johannisbeerstrauch lag, von weitem für einen ziemlich furchterregenden, großen, grauen Ball hielt. Ich hatte damals nur die Form erkennen können, dachte mir aber nichts dabei. Es war ja für mich normal, dass alles etwas unscharf war. Meine Eltern waren damals überrascht, dass ich einen Igel nicht erkannte, aber darauf, dass ich schlecht sah, kamen sie wohl nicht. Einen Fernseher, wo das eher hätte auffallen können, hatten wir auch nicht und lesen konnte ich wie jeder andere.

 

Irgendwann sollte ich aber mündlich eine Aufgabe lösen, die an der Tafel stand. Erst mal druckste ich herum. Ich konnte die Zahlen nur verschwommen sehen. Meine Lehrerin wurde total wütend und sagte, ich solle doch offen zugeben, dass ich es nicht könnte. Daraufhin sagte ich ihr, dass ich es nicht sehen könnte. Erst mal wurde sie noch wütender und meinte, ich solle sie nicht anlügen. Daraufhin brach ich in Tränen aus. Sie glaubte es mir zwar immer noch nicht, sagte aber dann mit böser Stimme, ich sollte mich in die erste Reihe setzen und gab mir einen Brief für meine Eltern mit. Meine Eltern machten für mich einen Termin beim Augenarzt in der Stadt aus und meine neun Jahre ältere Schwester fuhr eines Nachmittags mit mir hin.

 

Die Praxis war groß und sehr voll und hatte Krankenhauscharme. Ein Wartezimmer gab es nicht. Mindestens 40 Patienten saßen auf dem Flur auf Stühlen an der Wand entlang. Es gab mehrere Ärzte. Nach gefühlt ewig langer Zeit wurden wir zum Sehtest gerufen. Ich sah nicht sehr gut und als wir dann wieder auf dem Flur saßen, brach ich wieder in Tränen aus. Ich konnte einfach nicht anders. Meine Schwester tröstete mich zwar, aber die Kinder aus meiner Klasse würden mich bestimmt so ärgern wie ein anderes Mädchen, das auch eine Brille hatte und das alle so doof fanden. Wir mussten dann zu einer Ärztin. Sie stellte mir das Rezept für die Brille aus. Damals zahlte die Krankenkasse Brillen mit einem sogenannten Kassengestell noch komplett.

 

Auf dem Heimweg konnte ich mich einigermaßen beherrschen. Zu Hause saßen meine Mutter und die Großeltern gerade beim nachmittäglichen Kaffeeplausch in der Küche, als wir ankamen. Wir setzten uns dazu und meine Schwester erzählte, was bei der Untersuchung herausgekommen war. Ich war immer noch am Boden zerstört. Als sie erzählte, dass ich geweint hatte und ich schon wieder zu schluchzen begann, schlug mir meine Mutter ins Gesicht. Bis heute weiß ich nicht, was der eigentliche Grund dafür war. Wahrscheinlich war ich ihr zu stolz gewesen, weil ich meine Maulwurfssichtigkeit nicht zugeben wollte. Wenn ich gefragt hätte, hätte es sicher noch mal geknallt.

 

 

Die Brille konnte dann ja nur hässlich sein! Wie ich es mir gedacht hatte konnte ich nur unter wenigen Gestellen eins aussuchen. Es wurde ein Kassengestell mit einem dicken Rahmen und großen Gläsern. Anfangs war es schwer, sich an sie zu gewöhnen. Wenn ich beim Gehen auf den Boden sah, schien es, als wäre immer ein kleiner Hügel vor mir auf dem Weg und sie drückte auch auf der Nase. Allerdings konnte ich nun tatsächlich gestochen scharf sehen. Ich bekam in der Klasse nicht so viel Gegenwind wie ich gedacht hatte. Wenn ich mich richtig erinnere, kam zwar einmal so etwas wie „Stubenfliege“ von einem der Jungs, aber das war es dann auch. Hässlich fühlte ich mich trotzdem.