1.  

    Flucht 

 Es muss etwa im Jahr 1970 oder 1971 gewesen sein. Mathematik war während meiner gesamten Schulzeit total schlimm für mich gewesen und ich wurstelte mich einfach irgendwie durch. Besser als Vier war ich selten.

 

Im vierten Schuljahr wurde der Unterricht dann auf Gruppenarbeit umgestellt. An jedem Gruppentisch saßen sechs Schüler, die von nun an zusammenarbeiten sollten. Jede Gruppe erhielt für die gemeinsamen Erfolge „Sternchen“, die an die Filzwand im Klassenzimmer geheftet wurden. Jeder konnte nun sehen, wer die Besten oder die Schlechtesten waren und die Sternchen wurden später in Noten umgerechnet.

 

Ich saß mit meiner Freundin B. zusammen an einem Tisch mit F., der Tochter einer Lehrerfamilie und noch einigen anderen Mädchen, mit denen ich ansonsten aber nicht viel zu tun hatte. Da B. und ich keine guten Leistungen brachten, drückten wir natürlich den gesamten Schnitt unseres Tisches. In diesem Jahr sollte es die Grundschulempfehlung für die weiterführenden Schulen geben. Ich selbst hatte keine große Hoffnung, den Übergang zu schaffen. Die anderen kämpften dafür aber umso mehr.

 

Eines Tages bekamen wir wieder mal eine schlechte Bewertung. F. beschwerte sich bei der Lehrerin, dass das nur an B. und mir liegen würde, weil wir so schlecht seien. Daraufhin erklärte sie ihr, dass die Besseren eben mit den Schlechteren lernen müssten. Dann würden alle besser werden. F. schaute mich ziemlich böse an.

 

Einen Tag später machten sich die Mädchen mit uns zusammen auf den Heimweg. Das war äußerst merkwürdig. Sonst taten sie das nie. Auf einmal meinte F., sie wollten noch mit uns lernen. Als wir den Bahnübergang überquert hatten und in der Nähe der Güterhalle am Bahnhof waren, hörte ich jemanden sagen, dass wir uns ja dort auf die Laderampe setzen könnten. Ich sagte, ich müsse rechtzeitig zu Hause sein, sonst würde ich Ärger bekommen. Ich hatte sie aber auch etwas flüstern gehört und dachte mir, dass da etwas im Busch war.

 

Voller Angst lief ich über die Straße, hielt kurz an und rief B. zu, sie sollte mitkommen. Sie meinte aber nur, dass sie doch zusammen mit den anderen noch lernen wollte. Ich rief ihr nochmals zu, sie sollte kommen, aber sie kam nicht. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob und was die anderen vorhatten, dachte mir aber, dass das nichts Gutes sein konnte. Aufgewühlt rannte ich nach Hause. Ich sagte niemandem etwas davon.

 

Am nächsten Morgen, als ich B. von zu Hause abholen wollte, empfing mich ihre vor Wut schäumende Mutter. Ich erschrak! Warum ich sie nicht benachrichtigt hätte, und warum ich B. überhaupt alleine bei denen gelassen hätte! Die anderen hatten sie schlimm verprügelt und sie war dann weinend nach Hause gelaufen. Ich war geschockt. Das war also deren Art zu "lernen"! Das hatte ich nicht gewollt. Auf die Idee zu ihrer Mutter zu gehen war ich nicht gekommen, denn bei mir zu Hause hätte ich in dieser Hinsicht keine Hilfe erwartet. Nun gab sie mir auch noch die Schuld daran.

 

Die Mutter ging dann noch mit in die Schule und es gab ziemlichen Ärger. Der einzige positive Aspekt war, dass wir an einen anderen Tisch gesetzt wurden. Die anderen aus der Gruppe wollten von da an nie wieder etwas mit uns zu tun haben.