Erinnerung an den Kindergarten

 

 Meine Erinnerungen an die kurze Zeit als ich im Kindergarten war, sind in erster Linie von Angst und Missgeschicken und von meinen sozialen Ängsten geprägt, genauso wie viele andere meiner Erinnerungen...

Als kleines Kind hatte ich nicht allzu viele Kontakte zu anderen Kindern. Ich spielte ab und zu mit R., meinem besten Freund, der schräg gegenüber wohnte und dem kleinen T., der nebenan im Haus wohnte. Dann gab es noch M., einen unter zunehmender Muskellähmung leidenden Jungen in meinem Alter, der kaum noch sprechen konnte. Ich verstand ihn aber trotzdem. Ab und zu besuchte ich ihn. Die Besuche waren etwas Besonderes, weil ich dort Nachmittags im Fernsehen Kindersendungen anschauen durfte. Wir hatten damals noch keinen Fernseher. Die anderen Jungs in der Straße waren mir zu wild und gingen eher zum Fußball und auf den Bolzplatz. Das einzige Mädchen der Straße war T´s Schwester. Sie war aber etwas älter und immer beim Sport oder musste lernen. Sie spielte nie mit den anderen Kindern. 

Die Häuser in unserer Straße waren Zweigenerationenhäuser, wo unten meistens die Großeltern wohnten. Wir wohnten im zweiten Stockwerk im Haus meiner Stiefgroßeltern. Die Wohnung war so klein, dass wir nicht mal ein Bad hatten. Die Zähne putzten wir an der Spüle in der Wohnküche und einmal die Woche wurde unten bei den Großeltern gebadet. Als ich noch klein war, wurde ich in der Küche in einer Zinkwanne gebadet. Später musste ich immer im Wasser meiner Schwester baden. Das fand ich sehr ekelig. Geheizt wurde in der Küche mit einem Holz- und Kohleofen, auf dem auch gekocht wurde. Der Rest der Wohnung wurde mit einem Ölofen im Wohnzimmer beheizt, der oft stank und laut rumste, bis er endlich richtig brannte. Meine neun Jahre ältere Schwester schlief im Wohnzimmer auf der Klappcouch und ich in einem winzigen Zimmer; dort wo eigentlich das Bad hätte sein sollen. Unsere Kleider waren alle zusammen im Kleiderschrank im elterlichen Schlafzimmer und in einem schmalen Einbauschrank im Treppenhaus, da weder in meinem Zimmer dafür Platz war, noch meine Schwester im Wohnzimmer einen Kleiderschrank hätte aufstellen können.

Meistens spielte ich mit unseren Tieren. Wir hatten einen etwas größeren Hühnerstall, der von einem rostigen, zerbeulten Drahtzaun der an krummen Metallrohren befestigt war, eingefriedet war und wo es drinnen noch einen Misthaufen und ein altes, gemauertes Häuschen für die Hühner gab. Dann stand dort windgeschützt noch ein vierfächriger alter Hasenstall, wo mein Opa Kaninchen züchtete, die genau wie die nicht mehr zum Eier legen geeigneten Hühner, zum Schlachten angedacht waren. Außerdem lief dort auch die Schildkröte meiner Schwester herum. Da immer Hühnerfutter herumlag gab es natürlich jede Menge Mäuse, die ich manchmal mit einem hohen Eimer fing, den ich in eine Ecke stellte und in den ich als Köder Hühnerfutter reintat, um sie im alten Aquarium meines Großvaters als Haustiere zu halten. Leider durfte ich sie nicht mit in mein Zimmerchen nehmen. Hinten im Garten hatten wir einen kleinen Teich mit Goldfischen, die ich oft fütterte oder die Jungtiere einfing um sie in der Regentonne großzuziehen. Meistens starben sie... Ab und zu hatten wir auch eine Katze, aber die verschwanden immer nach einiger Zeit auf unerklärliche Weise. Wir verdächtigten immer unseren Nachbarn, der Jäger war.

 

 

Überhaupt war meine Tierhaltung oft ziemlich schlimm, weil ich eben noch ein Kind war und meine Eltern nicht darauf achteten. Als ich mal einen Hamster und eben diese Mäuse hatte, das war ich schon etwas älter, vermehrten sich die Mäuse fürchterlich und sie hatten kaum noch Platz in dem alten Aquarium. Hamster brauchen aber ab und zu Lebendfutter. Da ich weder Geld hatte um welches zu kaufen, noch allein in die Stadt in eine Zoohandlung fahren konnte, fütterte ich dem Hamster kurzerhand eines der neugeborenen und nackten Mäuschen. Mein Bruder, der dabei war, war entsetzt. Für mich machte es damals wenig Unterschied, ob ich dem Hamster ein Mäuschen oder Mehlwürmer fütterte. Heute schäme ich mich dafür.

Eines Tages meinte meine Mutter, es wäre besser, wenn ich in den Kindergarten ginge, damit ich besser auf die Schule vorbereitet sei. Wahrscheinlich hatte sie dafür eine Empfehlung bekommen. Ich war zwar schon damals verängstigt wegen all dem Neuen, aber bei meiner Mutter gab es keine Widerworte und so brachte sie mich an einem warmen Sommermorgen durch das Dorf in den Kindergarten, wo unter blauem Himmel schrill schreiende Mauersegler an den Häusern vorbeiflitzten, versehen mit dem braunen, ledernen Vespermäppchen, das schon meiner älteren Schwester gehört hatte. 

Der evangelische Kindergarten in meinem damals noch sehr dörflichen Wohnort war recht idyllisch. Es war ein eineinhalbstöckiges und schon recht altes Dorfhaus mit beigebraunem, abgeblättertem Anstrich. Durch die hölzerne Hintertür kam man in einen großen, vom Sommer ausgetrockneten Garten mit einem alten, ausladenden Kastanienbaum. Darunter war ein sandiger Spielplatz, wo hölzerne und metallene Spielgeräte aufgestellt waren. 

Meine Mutter gab mich bei den beiden Gemeindeschwestern ab und eine zeigte mir das Spielzimmer, die kleinen Toiletten, die mit halbhohen Holzwänden voneinander abgetrennt waren, die kleinen Waschbecken, die sich auf der anderen Seite der Toilette aneinanderreihten und den Spielplatz, wo auch schon ein paar andere Kinder waren. In der Toilette hatte die Schwester gesagt, man müsse es ihr immer sagen, wenn man aufs Klo muss. Es gab in dem großen Raum wo auch das Spielzeug war kleine, hölzerne Stühlchen und abgewetzte Tischchen aus hellbraunem, unbehandeltem Holz, den eigentümlichen Geruch von Bohnerwachs und etwas anderem, das ich nicht definieren konnte. Es roch einfach fremd und dieser Geruch, den man manchmal in sehr alten Häusern findet, bedeutet für mich noch heute immer Kindergarten. An die Spielsachen kann ich mich gar nicht mehr erinnern. 

Dann sollte ich raus zum Spielen. Ich hatte Angst vor den Reaktionen der anderen Kinder. Zwar gab es dort auch einen der Nachbarjungs mit denen ich normalerweise nicht in Kontakt war, der mich begrüßte und zum Spielen aufforderte, aber ich hatte einfach das Gefühl, dass die mich alle nicht leiden könnten. Er sagte dann etwas Freches zu mir, das er und die anderen total witzig fanden. Ich ging verschämt weg. Irgendwann war dann Frühstückszeit und wir setzten uns draußen zum essen auf die kleinen Holzstühlchen. Wenn ich an den Kindergarten denke, werde ich gleichzeitig auch immer harmlos tschilpende Spatzen, sommerstaubige Erde im warmen Sonnenschein und vor allem auch den Geruch der braunen, überreifen Bananen aus meinem Vespermäppchen in der Erinnerung haben. Ich hasse überreife Bananen, aber die eine Schwester meinte, ich müsste sie essen. Also tat ich es mit Widerwillen.

Dann merkte ich irgendwann, dass ich aufs Klo musste. Vorher beim Rundgang hatte die Schwester ja gesagt, man müsse es ihr sagen, wenn man aufs Klo will. Ich schob es immer weiter raus, weil ich sie nicht ansprechen wollte. Zu Hause hatte ich nie gefragt und aufs Klo zu gehen war für mich viel zu privat, als dass ich es jemandem hätte sagen können. Ich konnte einfach nicht... Vielleicht würde es ja noch reichen, bis mich meine Mutter abholte... Natürlich kam es wie es kommen musste: Der Druck wurde immer schlimmer. Ich presste die Beine zusammen, aber ich konnte es nicht mehr halten. Die Unterhose und die Ledersandalen waren tropfnass! Die Schwestern merkten es natürlich recht schnell und schimpften mich aus. Man konnte nicht bei uns Zuhause anrufen, weil wir damals noch kein Telefon hatten. Ich bekam deshalb eine stocksteife Baumwollunterhose aus dem Fundus des Kindergartens und musste warten, bis meine Mutter Mittags zum Abholen kam. 

Ich weiß nicht mehr, ob es gleich am nächsten Tag war, aber irgendwann fasste ich doch den Mut, ein kleines Mädchen, das im Sandkasten saß, zu fragen ob ich mitspielen dürfte. Sie saß nur stumm da und schaute mich mit giftigem Blick an. Als ich mich auf das Holzbrett am Rand des Sandkastens setzte, ging sie kreischend auf mich los. Natürlich sah das die Schwester, die Aufsicht hatte. Sie kam angerannt, packte uns beide, stellte uns gegenüber auf und donnerte unsere beiden Köpfe aneinander. Dann sagte sie noch irgend ein für sie passendes Sprüchlein, an das ich mich jetzt aber gerade nicht erinnere. Es tat zwar auch weh, aber das Schlimmste daran war, dass ich ja eigentlich gar nichts Böses getan hatte und trotzdem bestraft wurde. 

Als meine Mutter kam, sagte dann die Schwester zu ihr, dass ich für den Kindergarten zu unreif sei. So blieb ich bis zum Schulbeginn im nächsten Jahr Zuhause. Das war mir natürlich nur Recht.

Heute würde ich sagen, dass es aus pädagogischer Sicht vielleicht besser gewesen wäre, weiterhin dort zu bleiben, denn vielleicht hätte ich mich nach einiger Zeit doch noch an die anderen Kinder und ihre Eigenarten gewöhnt und somit ein Erfolgserlebnis bezüglich sozialer Integration gehabt.