Kuss“

 

Als ich klein war, sagte meine Mutter immer zu mir, ich solle zu den anderen Kindern, raus auf die Straße, spielen gehen. Das tat ich dann auch nach einiger Überwindung. Es gab immer ein paar Nachbarsjungs, die draußen waren. Mädchen waren zu der Zeit fast nie dabei. Mein bester Freund war R.. Er war ein Jahr älter als ich und hatte noch einen kleineren Bruder. Wir bauten uns Häuschen und Zelte aus Decken, Kissen und Gartenstühlen und spielten „Mudderles und Vadderles“, was „Familie spielen“ bedeutet. Oft rupften wir bunte Blütenblätter von Blumen ab und „kochten“ damit. Oder wir liefen am Ortsrand dem kleinen Rinnsaal bis zum Quellteich entlang, wo heute ein Reiterhof ist, und fingen Kaulquappen und Libellenlarven. Wir wetteten miteinander, wer als erstes ein Pony haben würde und er meinte, er wollte mich heiraten, wenn wir groß wären. Ich wollte das aber nicht. Er war schon damals nicht wirklich mein Typ....  Es hätte trotzdem alles so schön sein können...

Meine Mutter wollte nicht, dass wir drinnen spielten. Sie hatte wohl Angst, dass wir alles schmutzig machen. Einmal rief sie völlig wütend aus dem Schlafzimmerfenster heraus, wir sollten verschwinden und woanders spielen, weil sie Kopfschmerzen habe.

 

Eines Tages, wir waren alle im Grundschulalter, spielten wir draußen auf der Straße ein Spiel, das die Jungs „Lauerle“ nannten. Einer stand mit dem Gesicht gegen eine Hauswand und rief „Lauer,Lauer, Lauerle“. Während er das rief gingen die anderen, die auf der anderen Straßenseite in einer Reihe aufgestellt waren, immer so weit über die Straße wie die Zeit es zuließ, bis die Worte gesprochen waren. Dann drehte sich der Rufende um und wenn er dann noch jemanden sah, der sich bewegte, hatte derjenige verloren. Erreichte einer der anderen die gegenüberliegende Straßenseite, hatte dieser gewonnen und durfte als nächster an die Hauswand. Zu dieser Zeit gab es noch sehr wenig Autoverkehr.

 

Dieses Mal waren zwei Brüder, W. und T. dabei, die sonst nicht mit uns spielten. Irgendwann kamen sie auf die Idee, dass wir zu R. in den Schuppen gehen sollten um dort weiterzuspielen. Ich ging auch mit. Wir kamen durch die Garage im Keller des Wohnhauses, weil das Hoftor abgeschlossen war. Als wir im Schuppen waren, benahmen sich die drei mir gegenüber plötzlich ziemlich merkwürdig. Ich bekam Angst. Auf einmal meinten sie, sie würden mich fesseln und ausziehen wollen.

 

Ein Seil hatte der eine auch schon parat. R. half mir nicht. Sie packten mich und wollten mich festbinden, aber ich spuckte nach ihnen, riss mich los und rannte panisch davon. Geistesgegenwärtig erinnerte ich mich, dass das Hoftor abgeschlossen war und hetzte durch den dunklen Keller. Dort war der ältere Cousin meines Freundes in einem Raum gerade am Holzhacken. Als ich vorbeikam sah ich gerade, wie er die Axt hob. Er schaute mich verdutzt mit großen Augen an, wie ich da heftig schnaufend stand. Im düsteren Licht der Glühbirne an der Decke war sein Anblick mit dem erhobenen Beil  total gruselig. Ich rannte den Gang weiter und kam endlich in die Garage, aber das Tor war zu!

 

Kein Ausweg! Ich konnte nicht raus!

 

Ich ließ mich auf den Boden fallen und versteckte mich unter dem Auto. Da hörte ich schon schnelle Schritte. R. kam mir hinterhergelaufen. Er zog mich an einem Arm und einem Bein unter dem Auto hervor, riss mich hoch und zwang mich, ihn zu küssen. Dann machte er das Garagentor auf und ließ mich raus. Heulend rannte ich nach Hause und versteckte mich in meinem Zimmer.

 

Das war mein erster „Kuss“... Kann man das so nennen? Ich habe nie wieder mit ihm geredet. Zuhause habe ich das niemandem erzählt. Ich schämte mich so sehr und dachte, meine Mutter würde mich dann noch dazu schimpfen. Jahrelang trug ich das mit mir herum und habe es niemandem erzählt. Es hat mein Verhältnis gegenüber anderen Kindern und später auch Erwachsenen im Allgemeinen und zum männlichen Geschlecht im Besonderen total verändert. Keine Ahnung, wie ich es doch noch geschafft habe, einen Mann abzukriegen.

 

 

Lange Zeit hatte ich jedenfalls zu niemandem mehr wirklich Vertrauen und erwartete einfach immer ähnliche Dinge. Gerade dann wenn ich jemanden mochte kamen Ängste auf, dass ich die Nähe nicht aushalten könnte. Normalerweise kann ich es heute  einigermaßen abspalten und mich im Umgang mit anderen normal verhalten, aber oft klingelt trotzdem im Hintergrund ein schrilles AlarmglöckchenDazu ist noch zu sagen, dass ich ein paar Tage vorher, als wir spielten, zu einem anderen Freund gesagt hatte, er solle mich doch mal am Geländer unseres Hofes festbinden. Er wollte das aber nicht. Damals habe ich damals keine Verbindung zwischen diesen beiden Geschehnissen knüpfen können, aber heute vermute ich, dass R. das damals vielleicht gesehen hatte, dann einfach eifersüchtig auf den Jungen war und es deshalb passiert ist.