Papa ist tot...

 

Im Jahr 1992 war mein Vater 63 Jahre alt. Er hatte oft Herzbeschwerden war deshalb frühberentet. Nach verschiedenen Untersuchungen kam man zu dem Schluss, dass eine Bypassoperation nötig sei. Ich war damals erst seit kurzer Zeit wieder einigermaßen von meiner Wochenbettpsychose genesen. Nach einem Gespräch mit unserer Kinderärztin, bei der er öfters im Garten arbeitete, kam er zu dem Entschluss eine neuartige Herzkatheterbehandlung durchführen zu lassen, bei der Stents eingesetzt würden. Diese Art der Behandlung barg auch Gefahren, aber es waren gegenüber der Bypassoperation keine offene OP nötig und deshalb eben nicht so blutig. Allerdings führte so etwas damals nur die Uniklinik in Freiburg durch. Obwohl das sehr weit von zu Hause weg war, entschloss er sich, diesen Weg zu wählen.

 

Als der Termin feststand, fragte er mich einmal, ob ich für ihn zusammen mit meinem Mann das Gartengrundstück versorgen würde, wenn er selbst es nicht mehr könnte und bat mich auch, zusammen mit ihm das Naturkundemuseum zu besuchen. Ich schäme mich noch heute dafür, dass ich diesen Besuch ablehnte, sah das damals aber nicht im Zusammenhang mit seiner Angst vor einem Ableben durch die Operation und einem letzten Wunsch an mich. Der Grund dafür war, dass ich mein Baby nicht alleine lassen wollte, was aus heutiger Sicht total blödsinnig war. Meine Eltern hatten bezüglich eines eventuellen Erbfalles erwähnt, dass meine Schwester kaum etwas bekommen würde, was ich schon damals als unfair empfand, aber ich sagte nichts dagegen, weil ich damit rechnete, dass die OP sowieso gut gehen würde. Ich dachte nicht, dass es ein großes Problem sei, irgendwo einen Katheter reinzuschieben um einen Stent zu setzen.

 

Meine Mutter erzählte mir später, dass er sie noch am Morgen seiner Abreise zur Klinik danach fragte, ob er es wirklich tun sollte. Es gab einige Voruntersuchungen, die ein paar Tage dauerten. Einen Tag vor der OP besuchten wir ihn in der Klinik. Er meinte, die Ärzte hätten gesagt, der Eingriff könnte ziemlich problematisch sein, er ihn aber trotzdem machen lassen würde, da er eigentlich keine andere Wahl hätte.

 

Zuerst schien alles gut gegangen zu sein und nach einem Tag auf der Intensivstation kam er aufs Stationszimmer. Nach einiger Zeit rief er uns aber an und erzählte, dass er immer größere blaue Flecken am Bauch und an der Leiste bekäme. Er fühle sich auch nicht wohl; hätte Schmerzen. Ich sagte ihm, er sollte sofort mit den Ärzten darüber reden.

 

Am nächsten Tag lag er schon wieder auf der Intensivstation. Der Katheter, der an der Leiste eingeführt worden war, hatte im Bauchraum eine Arterie durchstochen und zu innerlichen Blutungen geführt. Keiner hatte es bemerkt. Der wegen den Stents nötige Gerinnungshemmer hatte das Übrige getan. Der ganze Bauchraum war voller Blut. Nach einem weiteren Tag versagten die Nieren. Wir wechselten uns mit den Besuchen in Freiburg ab. Als ich mit meinem Bruder zu ihm kam, lag er zitternd in seinem Intensivbett. Er hatte überall Schläuche und Infusionen. Ich fragte den behandelnden Arzt, ob man ihn nicht nach Karlsruhe verlegen könnte und ob er Schmerzen habe. Er meinte nur, Papa sei nicht transportfähig und fragte meinen Vater nach Schmerzen. Er bewegte langsam den Kopf von rechts nach links. Plötzlich hörte ich jemanden hinter dem Vorhang sagen: „Aber gell J., du gehst nicht!“ Ich wusste sofort, dass das wieder eine „Stimme“ gewesen war und fragte mich, ob das jetzt wieder anfangen würde.

 

Als der Arzt weg war, sagte mein Vater leise und schwach zu uns: „Alles wird gut!“ Das werde ich nie vergessen. Obwohl ich es hasse, vor anderen zu weinen, schossen mir die Tränen in die Augen und murmelte nur: „Ja Papa!“ Er bat uns um etwas, aber wir konnten ihn nicht verstehen.

 

Nach einer Weile mussten wir wieder gehen. Wir verabschiedeten uns. Als wir am gehen waren, sagte ich noch zu meinem Bruder, dass es vielleicht besser wäre, wenn ich dort bleiben würde, aber er meinte man dürfe sowieso nicht in der Intensivstation bleiben. Dann murmelte er, er wüsste was unser Papa von uns gewollt habe... Er hätte um Wasser gebeten. Das hätten wir ihm wegen der Intubierung aber sowieso nicht geben können.

 

Am nächsten Tag fuhr unsere Mutter alleine mit dem Zug nach Freiburg. Papa war nicht auf der Intensivstation. Man sagte ihr, er sei bei der Dialyse und wies ihr den Weg dorthin. Als sie dort ankam sah sie erschrocken, was los war. Einige Ärzte standen um das Bett meines Vaters und versuchten angestrengt, ihn wiederzubeleben. Als sie jemand in der Tür stehen sah, wurde sie hektisch von einer Schwester hinausgeschoben. Erst als die Reanimation keinen Erfolg brachte, sprach man mit ihr. Natürlich war sie vollkommen am Ende. Besonders als man sie gleich danach fragte, ob man ihren Mann obduzieren dürfe. Sie verneinte das und ging weg. Im Weggehen wurde ihr vom Arzt noch nachgerufen, dass er noch an diesem Tag eine Entscheidung brauchte.

 

Ich weiß nicht, wie meine Mutter es geschafft hat, in diesem Zustand alleine nach Hause zu kommen. Mein Bruder rief dann am Abend an und sagte uns, dass er gestorben sei. Wir trafen uns und mussten nun über die Obduktion entscheiden. Nur ich und der Freund meiner Schwester waren dafür. Meine Mutter meinte, sie wollte das nicht, weil die unseren Vater schon genug gequält hätten. Die genaue Ursache für sein Ableben konnte deshalb nicht festgestellt, und die Schuldigen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

 

Als wir nach Hause kamen, kondolierten mir meine Schwiegereltern kurz. An diesem Abend, als mein Vater gestorben war, wusste mein Mann nichts Besseres als mich zu drängen mit ihm zu schlafen. Ganz abgesehen von seiner Gefühllosigkeit war ich nicht fähig, nein zu sagen, denn ich wusste, er würde dann wieder einige Zeit böse auf mich sein. Ich fühlte mich schrecklich.

 

In den nächsten Tagen kamen der Pfarrer und der Beerdigungsunternehmer. Außerdem öffneten wir das Testament, das unsere Eltern vor der Operation verfasst hatten. Es war ein Berliner Testament, nach dem unsere Mutter alles erbte und unser Bruder nach dem Ableben der Mutter das Haus erben sollte. Meine Schwester und ich sollten dafür nur jeweils 30.000 DM von unserem Bruder bekommen und das erst, wenn der Erbfall eintreten würde. Da ansonsten nicht viel zu vererben war, war ich wütend. Diese Summe lag sogar unter dem Pflichtteil. Aber was sollte ich tun? Ich sagte auch nichts weiter zu meiner Mutter, außer dass H. ein Haus mit zwei Wohnungen und Nebengebäuden, Hof und Garten bekommen würde und wir nur eine Summe, von der man mit Müh und Not ein Auto kaufen könnte. Wenn ich das Geld dann auch noch erst dann bekommen würde, wenn sie irgendwann starb, wäre es vielleicht nicht mal mehr dafür ausreichend. Mama war tödlich beleidigt über meine Aussage...

 

Später ging ich noch zu einem Rechtsanwalt und ließ mich beraten. Ich hätte gleich den Pflichtteil verlangen können. Meine Mutter hätte dann aber schlimme Probleme bekommen, denn den hätte sie aus eigener Tasche bezahlen müssen. In meiner Wut überlegte ich zuerst dies zu tun, aber meine Eltern hatten uns während meiner ersten Psychose so sehr geholfen, dass ich das auf keinen Fall tun konnte.

 

Die Beerdigung fand an einem eiskalten Dezembertag statt. Der gefrorene Boden war mit Reif bedeckt und der Himmel bleigrau. Als wir in die Kapelle kamen, lag da unser Vater in seinem Anzug im Sarg. Seine Qualen sah man nicht mehr. Der Bestatter hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte meiner Mutter gesagt, er hätte mehrere Liter Blut aus dem Bauchraum entfernen müssen, so viele Transfusionen hatte unser Vater bekommen. Wir verabschiedeten uns von ihm.

 

Die Beerdigung war schrecklich. Ich bekam Kopfschmerzen vom vielen Weinen und die salbungsvollen Reden des Pfarrers und vor allem die seines früheren Chefs fand ich einfach nur scheinheilig. Als wir aus der Kapelle kamen, stand der ganze Friedhof voller Leute. Mein Vater war ja in einigen Vereinen gewesen. Ich wusste erst mal nicht, ob ich das schaffen würde. Wir nahmen dann aber unsere Mutter in die Mitte und gingen hinter dem Sarg zum Grab. Nachdem unser Vater beerdigt war, gab es viele Beileidsbekundungen von Bekannten. Danach gingen wir ins Naturfreundehaus, das ganz in der Nähe des Friedhofes liegt, wo man bei Kaffee und Kuchen noch eine Weile zusammen saß und redete.

 

 

Ich war wirklich sehr beleidigt wegen dem Testament. Heute, 28 Jahre nach dem Geschehnis sehe ich es so, dass unser Bruder inzwischen wohl auch die besten Möglichkeiten hat unsere Mutter zu versorgen und unter ihren Launen auch oft sehr leiden muss. Ich denke, seine Beziehungen haben schon immer unter unserer Mutter gelitten oder sind sogar in die Brüche gegangen, weil ihr keine seiner Freundinnen oder Frauen recht waren. Ich bin inzwischen alleine und habe kein Auto um sie zu fahren, ganz abgesehen vom Mangel an finanziellen Möglichkeiten, das Haus überhaupt zu unterhalten. Meine Schwester hat auch ihre Probleme. Vielleicht ist es deshalb gerecht, dass er so viel mehr als wir bekommen hat.