Meine Konfirmation

 

Wie fast alles, was in meinem Leben außergewöhnlich war, war auch meine Konfirmation 1975 eine Katastrophe.

 

Schon im Konfirmandenunterricht fühlte ich mich unter den anderen Kindern nicht wohl. Ich hatte kaum Freunde unter ihnen, weil ich erst nach der fünften Klasse der Hauptschule in die Realschule gewechselt war, dort dann aber noch mal mit der fünften Klasse anfangen musste und somit ein Jahr jüngere Klassenkameraden hatte. Diese waren aber erst ein Jahr später mit der Konfi dran.

 

Der Unterricht war noch ganz OK, aber der Gedanke an die obligatorische, mehrtägige Konfirmandenfreizeit machte mir Angst. Mehrere Tage alleine von zu Hause weg? Schrecklich! Das Trauma mit dem Geschehnis wo mich die Jungs fesseln wollten und mich dann mein bester Freund gegen meinen Willen küsste, war immer noch präsent, obwohl es schon ein paar Jahre her war und ich erwartete ständig ähnliches, wenn ich mit Jungs zusammen war. Außerdem musste man sich da vor anderen umziehen, weil es bestimmt nur Mehrbettzimmer gab. Auch wenn das nur Mädchen waren, schämte ich mich.

 

Wir fuhren in eine kirchliche Tagungsstätte nach Mosbach in der Nähe von Heilbronn. Jungs und Mädchen waren in zwei nebeneinander liegenden, einstöckigen Gebäuden untergebracht. Schon am ersten Abend setzte sich einer der Jungs, der Sohn des Metzgers, auf das obere Stockbett am uns gegenüberliegenden Fenster, kramte seinen Pimmel raus und fummelte grinsend daran herum, als er sah dass die Mädchen zu ihnen rüberschauten. Alle kreischten! Wahrscheinlich war das auch Sinn und Zweck der Übung. Die Jungs lachten sich halb tot über uns.

 

Am nächsten Abend war Disco und Spieleabend angesagt. Auch davor hatte ich Angst, weil ich zu gehemmt zum tanzen war. Noch schlimmer war dann das Flaschendrehen, wo auch der Pfarrer mitspielte. So weit ich mich erinnere, erwischte es mich glücklicherweise nicht, aber ich hatte deshalb Blut und Wasser geschwitzt und schämte mich, dass ich nicht so fröhlich und ausgelassen sein konnte wie die anderen.

 

Am schönsten war noch die abendliche Meditation in der herbergseigenen Kapelle. Da konnte man einfach still dasitzen und Weihrauch schnüffeln. Keiner wollte etwas von einem.

 

Wir besichtigten die psychiatrische Klinik der Diakonie. Die Kinder, die wir sahen, waren geistig behindert und schliefen zusammen in großen Schlafsälen, mit bestimmt 20 Betten. Es gab auch psychisch Kranke dort, aber die bekamen wir nicht zu Gesicht. Es gab keinerlei Privatsphäre. Jeder hatte nur ein Bett und ein Nachttischchen daneben. Eins der Kinder fragte, was denn wäre wenn jemand krank würde, denn da hatte man ja keine Ruhe. Der Klinikangestellte der uns herumführte meinte, die würden nur selten krank werden. Sie seien viel zu sehr in ihre psychischen Probleme involviert. Blödsinnige Aussage!

 Schon damals hatte ich das Gefühl, dass ich bei meinem Pech vielleicht auch in so einer Einrichtung landen könnte. Durch meine ständigen Ängste und Depressionen dachte ich ja schon damals, dass ich irgendwie nicht normal wäre. Merkwürdig finde ich heute auch, dass nicht mal der Pfarrer auf die Idee kam, zu fragen, warum ich so merkwürdig still und gehemmt war. Es kümmerte keinen... Glücklicherweise hat sich in den letzten Jahrzehnten aber doch viel in der Behandlung von psychisch Kranken geändert. Heute achtet man darauf, dass eine größtmögliche Selbständigkeit gewahrt wird. Mich hat in dieser Hinsicht wahrscheinlich einfach der Wandel der Zeit gerettet...

 

Die Konfirmation selbst fand dann an zwei aufeinander folgenden Sonntagen statt. Jeder sollte etwas auswendig lernen und das dann in der Prüfung aufsagen. Der Pfarrer verdonnerte mich zu einem Kirchenlied mit sechs langen Strophen. Er kannte mich schon von vorher aus dem Religionsunterricht in der Schule und wusste ganz genau, dass ich nicht gut auswendig lernen konnte. Ich rechnete schon von Anfang an damit, dass ich es nicht schaffen würde. Auf die Idee, mit dem Pfarrer darüber zu reden kam ich garnicht. Ich hätte mich das nie getraut.

 

Am Morgen vor der Konfirmation war ich schon zu Hause nervös und am Boden. Ich konnte keine einzige Strophe richtig aufsagen. Das Essen nach der Kirche sollte zu Hause im winzigen Wohnzimmer stattfinden und meine Mutter hatte extra eine Köchin bestellt, die es in der Zeit wo wir in der Kirche waren fertig machen sollte. Als ich total verzweifelt sagte, dass ich das Lied nicht aufsagen konnte, sah ich direkt, wie das Gesicht meiner Mutter lang wurde. Ich dachte es mir schon: Ich würde eine Blamage für sie sein! 

 

Es war dann natürlich auch so! Ich stakste an den Versen rum obwohl mir der Pfarrer immer wieder Hilfe gab, und es war absolute Stille in der Kirche. Jeder bekam mit, wie ich versagte. Die Kinder, die neben mir saßen, sahen mich mitleidig an. Ich konnte mir nur schwer die Tränen verkneifen.

 

Nach der Kirche gingen alle raus um sich noch zu einem Gruppenbild zu treffen. Ich suchte meine Familie, aber sie waren weg. Nachdem das Bild gemacht worden war, ging ich ins Haus neben der Kirche, wo meine Tante wohnte, weil ich meine Eltern immer noch nicht gefunden hatte. Sie sagte mir, dass die schon alle nach Hause gefahren seien. Sie würden später nachkommen. Es war mir gleich klar, dass das die Strafe dafür war, dass ich alle so sehr blamiert hatte und ging allein in meinen unbequemen Festtagskleidern los. Ich hatte das Gefühl, jeder der mich sah, wüsste was passiert war. Die Tränen liefen mir übers Gesicht.

Als ich zu Hause ankam redete keiner mit mir und auch ich sagte nichts. Nur meine Schwester nahm mich kurz in den Arm. Ich setzte mich stumm an den Tisch, bekam kaum was runter und war froh, als der Tag vorüber war.

 

Das alles hatte mich so geschockt, dass ich von der Kirche dann nichts mehr wissen wollte. Ich hatte ja sowieso versagt, war in meinen Augen also nicht in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Ich weigerte mich, zu den Konfirmandentreffen zu gehen und ließ Kirche, Kirche sein. Sowieso war ich sicher, dass es keinen Gott geben konnte, wenn er zuließ, dass einem so etwas passierte.

 

 

Diesen Sommer (2017) machte ich dann wahr, was schon lange Jahre in mir gearbeitet hatte. Ich trat endgültig aus der Kirche aus. Ich glaube eher an die Natur als an Gott, denn sie ist das Grundprinzip allen Lebens, und meine Stimmen die ich als einziges übernatürliches Zeichen anerkennen kann, sind für mich einfach ein Teil der Natur. Da in der Natur immer alles auf Kreisläufen beruht, könnte es sein, dass auch Leben und Tod, so wie die Buddhisten sagen, ein ewiger Kreislauf ist. Dabei schließe ich die Seelen alles Lebenden ein, vielleicht sogar die der Pflanzen. Es wäre ja möglich, dass manche Seelen sich aus irgend einem Grund eine gewisse Zeit lang nicht reinkarnieren können und so einfach in einer Zwischenwelt bleiben, oder sich an Lebewesen anhängen um zu dem zu werden, was wir als Stimmen oder sonstige Halluzinationen wahrnehmen.

 

 

Jedenfalls war der Kirchenaustritt keine große Sache. Ich musste auf dem Standesamt meinen Personalausweis vorlegen, einen kleinen Geldbetrag zahlen und das von der Beamtin ausgefüllte Formular unterschreiben. Ein paar Wochen später bekam ich noch einen Brief von der Kirchengemeinde, wo ich gebeten wurde, auf einem Formular anzukreuzen warum ich ausgetreten bin. Zuerst machte ich mir Gedanken darüber, ob es richtig gewesen ist, aber inzwischen fühle ich mich in Hinsicht auf Religion so frei wie nie zuvor.